Prozessieren in Zeiten der Pandemie – Durchbruch für Gerichtsverhandlungen „mittels Bild- und Tonübertragung“ gemäß § 128a ZPO?

Ziemlich genau ein Jahr seit Beginn der COVID-19-Pandemie ziehen viele Menschen Bilanz darüber, wie sich ihr Leben und ihre Arbeit in dieser herausfordernden Zeit verändert haben. In vielen Bereichen des Berufsalltags haben sich „über Nacht“ gravierende Änderungen ergeben – Geschäftsreisen, Besprechungen und Verhandlungen mit physischer Präsenz der Beteiligten finden kaum statt und wurden fast vollständig durch Videokonferenzen ersetzt. Überwiegend aus dem Home Office heraus „springen“ die Anwälte im Stundentakt von einem Zoom-Videocall ins nächste Teams-Meeting und verhandeln dabei Verträge und Deals, die „vor Corona“ fast unabdingbar in Präsenzmeetings mit vielen Beteiligten verhandelt worden wären. Die Digitalisierung ist in diesen Bereichen nicht aufzuhalten und hat durch die Pandemie noch einen kräftigen Schub erfahren.

Wenn man jedoch das Fazit aus der Sicht eines auf die Führung von Zivilprozessen mit inhaltlichem Schwerpunkt im Immobilienrecht spezialisierten Teams von Anwältinnen und Anwälten zieht, stellt man fest, dass der soeben beschriebene „Digitalisierungsschub“ in diesem Bereich kaum spürbar ist. Zwar hat sich durch die Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) bereits vor der Pandemie einiges in Sachen Digitalisierung getan; auch der Einsatz von beA ermöglicht es vielen Anwälten, ortsunabhängig zu arbeiten. Unerlässliche Voraussetzung dafür ist jedoch eine zuverlässige Kanzleiinfrastruktur mit versierten Assistenzfachkräften, moderner Hard- und Software (insb. Dokumentenmanagementsystem) und funktionierenden Workflows für die digitale Aktenführung.

Was die Durchführung und Teilnahme an Gerichtsverhandlungen jedoch angeht, hat die Pandemie bisher kaum Änderungen bewirkt. Dies ist nicht ganz nachvollziehbar, denn die Zivilprozessordnung (ZPO) sieht mit der Regelung in § 128a ZPO bereits seit dem Jahr 2001 die Möglichkeit vor, Gerichtsverhandlungen als Videokonferenz durchzuführen – „mittels Bild- und Tonübertragung“, wie es das Gesetz nennt. In der Praxis wird jedoch bis heute nur sehr vereinzelt von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Stattdessen werden die Gerichtstermine aufgrund der Pandemie-Situation immer wieder verschoben, was zu einer weiteren Verlängerung der Prozessdauer führt.

Angesichts dieser auch für die Gerichte sehr unbefriedigenden Situation (die Verfahren „stapeln“ sich und können nicht vorangetrieben bzw. erledigt werden), beginnen mittlerweile immer mehr Gerichte, Videoverhandlungen in Betracht zu ziehen.

Nachfolgend sollen die wesentlichen gesetzlichen Regelungen des § 128a ZPO über Videoverhandlungen im Zivilprozess kurz skizziert werden. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Verhandlungsform in nächster Zukunft durchsetzt und womöglich auch nach dem Ende der Pandemie beibehalten und ausgeweitet wird.

 

WAS REGELT § 128a ZPO?

128a ZPO ermöglicht eine mündliche Gerichtsverhandlung ohne persönliche Anwesenheit der Prozessbeteiligten an ein und demselben Ort, sondern mittels Bild- und Tonübertragung. Die gemäß § 169 GVG erforderliche Öffentlichkeit der Sitzung wird dadurch erreicht, dass sich der/die Richter im Sitzungssaal (im Gerichtsgebäude) befindet/n, während die Parteien, ihre Prozessbevollmächtigten und ihre Vertreter, Verfahrenshandlungen in der mündlichen Verhandlung ohne physische Präsenz im Sitzungssaal (d. h. „an einem anderen Ort“) vornehmen können. Der Grundsatz der Öffentlichkeit wird dadurch gewahrt, dass Zuschauer sich weiterhin in den Sitzungssaal begeben und von dort die Videokonferenz verfolgen können.

Die Verhandlung mittels Bild- und Tonübertragung ist in jedem Verfahrensstadium zulässig. Sie kann vom Gericht auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen angeordnet werden. Einer Zustimmung der Parteien bedarf es nicht.

 

WELCHE ANORDNUNGEN TRIFFT DAS GERICHT?

Die Entscheidung, ob eine Verhandlung mittels Bild- und Tonübertragung stattfindet, trifft das Gericht nach billigem Ermessen. Sie wird im Wege eines Gerichtsbeschlusses erlassen und ist nach § 128a Abs. 3 ZPO nicht isoliert anfechtbar.

Den Parteien steht es frei, ob sie die Möglichkeit der Bild- und Tonübertragung nutzen oder ob sie persönlich vor Gericht erscheinen möchten. Gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 ZPO „gestattet“ das Gericht den Prozessbeteiligten, Verfahrenshandlungen an einem „anderen Ort“ als den Gerichtssaal vorzunehmen, verpflichtet sie jedoch nicht dazu.

In seinem Beschluss muss das Gericht die Beteiligten nennen, denen es gestattet ist, sich während der Verhandlung an einem „anderen Ort“ aufzuhalten und von dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Der „andere Ort“ muss dabei nicht näher bestimmt sein. Etwas anderes gilt für die Befragung von Zeugen. Um eine Beeinflussung auf diese zu verhindern, kann das Gericht einen bestimmten Ort für deren Vernehmung bestimmen.

 

WELCHE TECHNISCHEN ANFORDERUNGEN MÜSSEN ERFÜLLT SEIN?

Dies bestimmt das Gericht. In den meisten Fällen werden eine Internetverbindung und ein Smartphone oder Computer mit Kamera, Mikrofon und Lautsprecher bzw. Headset genügen. Die meisten Gerichte nutzen eine länderspezifische Software, welche Skype for Business, Microsoft Teams oder Cisco WebEx und Polycom unterstützt. Dadurch werden spezielle Videokonferenzanlagen obsolet.

Einige Gerichte in Hessen, beispielsweise das Landgericht Darmstadt, verwenden die Software „Hessen-Connect“. Hierfür versenden die Gerichte einen Link der Plattform „Skype for Business“, über welchen sich die Beteiligten in einer Smartphoneapplication oder über ihren Internet-Browser einwählen können.

Einen guten Überblick über die in den einzelnen Bundesländern für Videoverhandlungen eingesetzten technischen Systeme ist unter https://www.zpoblog.de/service/128a-technik-bundeslaender/ zu finden.*

Es gilt zu beachten, dass bei technischen Problemen aus der Sphäre eines Verfahrensbeteiligten, die seine Teilnahme an der Verhandlung mittels Bild- und Tonübertragung verhindern (z. B. Probleme bei der Einwahl oder der Bild- und Tonübertragung), die Pflicht zum persönlichen Erscheinen im Sitzungssaal fortbesteht. Sollte die betroffene Partei daraufhin nicht persönlich im Sitzungssaal erscheinen, ohne dies genügend zu entschuldigen, so gilt sie als säumig im Sinne der §§ 330 ff. ZPO.

 

FAZIT UND AUSBLICK

Die Mühlen der Justiz mahlen bekanntlich langsam… so auch beim Thema Videoverhandlungen. Es bestehen aber dennoch gute Chancen, dass das Jahr 2021 den Durchbruch in diesem Bereich bringt – die „Litigators“ bleiben gespannt.

KUCERA mit seinem bundesweit tätigen Team spezialisierter Prozessanwälte wird den Fortschritt weiter für Sie beobachten und an gleicher Stelle über die weitere Entwicklung berichten. Bleiben Sie neugierig und schauen Sie wieder vorbei.

 

* Herzlichen Dank an Benedikt Windau und allen weiteren Autoren von zpoblog.de für die Zusammenstellung und die fundierten Beiträge – auch zu vielen anderen aktuellen Themenbereichen mit Bezug zum Zivilprozess.

Milena Frank
Birte Utz
Julia Wemelka
Dr. Raphael Nordhues
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